"Zauberhafte Träume des alten Schnoors" - 3 musikalischen Märchen aus Bremen


Zauberhafte Träume des alten Schnoors

3 Märchen von Oxana Sivova.
Bilder von Papucho und Suren Changljan

I.    Dennis und Weihnachtsmann  (Klavier. Fragmente)

II. Der Maler und der Rabe (Klavier, Fragmente)

III. Schmetterling - Susanne  (Klavier, Fragmente)

Textvorlage für gleichnamige Symphonische Trilogie


I. Dennis und Weihnachtsmann

In den frühen Dämmerungsstunden… Immer stiller wurde es in den schmalen Gassen des alten Schnoors. Es wirkte so, als ob ein uraltes Märchen in Form von großen Schneeflocken langsam aus fliederfarbenen Wolken hinunterrieselte. Neben einem festlich beleuchteten Schaufenster stand ein kleiner Junge. Es war Dennis. Begeistert schaute er sich den glitzernden Schmuck eines Weihnachtsbaums an -bunte Lichterketten, prächtige Kugeln, unterschiedliche Engelsfiguren und die heilige Familie - Jesus, Maria und Josef. „Wie schön!“ – sagte Dennis und berührte hierbei zufällig eine große Weihnachtsmannfigur, die neben dem Geschäftseingang aufgestellt war. Die Figur schaute ihn geheimnisvoll mit weit geöffneten blauen Augen und einem bezaubernden Lächeln an.
                       
Dennis schaute nach links und schaute nach rechts, aber seine Eltern waren nicht mehr zu sehen. Eigentlich wollte er ihnen doch gerade erzählten, welch ein wunderschönes Schaufenster er entdeckt hat. Vielleicht sind sie schon weitergelaufen, zusammen mit ihren guten Freunden, die sie nach Bremen eingeladen hatten. „Sie haben mich bestimmt vergessen!“ – dachte Dennis ganz verängstigt. Hoffnungsvoll schaute er die riesige Weihnachtsmannfigur an – so, als ob sie ihm helfen könnte. Plötzlich hörte Dennis überall seltsame Stimmen, Musik und verschiedene Geräusche… „Hab keine Angst, kleiner Dennis!“ – sagte plötzlich die Weihnachtsmannfigur. „Jetzt beginnt dein Weihnachtstraum, dein eigenes Märchen! Kein Wunder, denn du hast zufällig meine Hand berührt und das bringt jedes Mal irgendein Geschenk! Du wirst sehen und hören, was andere nicht sehen und nicht hören können. Ich gebe dir mein Wort! Ich weiß, dass du deine lieben Eltern verloren hast, aber sei bitte nicht traurig. Mit meiner Hilfe wirst du sie wiederfinden! Hab keine Angst, kleiner Dennis!“ – sagte der große Weihnachtsmann und lachte so laut wie ein Donner. 
      
Dennis erstarrte vor Schreck – die riesige Weihnachtsmannfigur hatte eben mit ihm gesprochen! Aber was sollte er jetzt tun? Wer konnte ihm helfen und wohin sollte er gehen, um seine Eltern zu finden? „Komm mit mir mit, Dennis! Ich glaube, ich weiß, wo deine Eltern sein könnten!“ – sagte jemand mit einer leisen miauenden Stimme. Dennis schaute herunter und sah eine kleine und hübsche Katze. Sie streifte seine Beine mit ihrem Köpfchen und sang: „Miau, miau…“. Dann drehte sie sich nach rechts und lief langsam in Richtung der Schnoorstraße. Dennis folgte nach einer kurzen Überlegung seiner neuen kleinen Freundin. „Hier, nicht weit um die Ecke, gibt es ein sehr gemütliches Plätzchen – ein Restaurant. Wir Katzen schauen gerne dort vorbei. Übrigens heißt das Restaurant Katzen-Kaffee. Ich bin mir sicher, dass deine Eltern sich gerade genau dort aufwärmen. Niemand kann dem Charme dieses Lokals wiederstehen. Es duftet hier immer so bezaubernd!“
               
In dem Restaurant herrschte eine feierliche Atmosphäre. Alle Besucher saßen in einem großen Saal, der nur durch einen dichtgewebten roten Stoff vom freien Himmel getrennt war. Sie hatten gerade gegessen, getrunken und gelacht…Fröhliche Musik verbreitete überall gute Stimmung. „Nun, hoffentlich siehst du deine Eltern hier irgendwo?“ – fragte die kleine Katze. Aber Dennis konnte seine Eltern nicht finden, auch wenn er alle Tische und Gäste mehrmals anschaute. Er wurde so traurig, dass er gegen seinen eigenen Willen anfing zu weinen. Heiße und brennende Tränen liefen aus seinen Äuglein über sein kaltes Gesicht. „Was hat denn der kleine Junge?“ – fragte eine dicke rothaarige Katze, die zufällig auch gerade in der Nähe war. Trotz der lauten Musik und der fröhlichen Stimmen aller Restaurantbesucher, konnte sie das leise Wimmern des weinenden Dennis hören. „Er hat sich verlaufen und sucht seine Eltern. Wir dachten, dass sie mit ihren Freunden vielleicht in diesem Café sitzen.“ „Naja, es sieht ganz so aus, als wären sie nicht hier…aber warte!“ – sagte die dicke Katze, „Es scheint mir, als ob ich sie vor Kurzem gerade gesehen hätte. Sie sind weiter durch die Schnoorstraße gelaufen!“ Die rothaarige Katze zeigte Dennis, wohin er laufen sollte.  
       
Die Tränen in Dennis` Augen trockneten sofort, als er die schmale und lange Gasse so schnell wie er nur konnte entlanglief. Diese Straße schlängelte sich wie eine Schnur, denn deshalb hieß sie auch so… Da waren viele märchenhafte Häuschen aus alten Zeiten, gemütliche Cafés und verschiedene bunt beleuchtete Souvenirläden auf dieser Straße. Bald war Dennis auf einem kleinen Platz angekommen. Dort blieb er direkt vor einem vierstöckigen Haus mit einem großen Bild eines weiß uniformierten Reiters auf einem grauen Pferd stehen. Er sah eine Gruppe mit vier Menschen. Doch das waren leider auch nicht seine Eltern. „Nun muss ich dich hier leider verlassen.“ – sagte die kleine Katze und streichelte Dennis` Bein zutraulich mit ihrem wolligen Schweif.

Dennis schaute auf das große Haus und las: Gasthof zum Kaiser Friedrich. „Der Kaiser Friedrich wird dir bestimmt helfen können. Tschüss Dennis und viel Glück!“ Die Katze kehrte um und lief zurück. „Was ist denn passiert, Kleiner?“ – fragte plötzlich eine männliche Stimme mit offensichtlichem Mitleid. „Ich sehe, dass du sehr traurig bist. Wahrscheinlich brauchst du meine Hilfe. Nicht wahr?“ – es war der Kaiser Friedrich, der auf seinem Pferd sitzend an die Wand des Hauses gemalt war. Er sprach zu Dennis. Dennis erzählte ihm seine Geschichte und fragte ihn, ob er vielleicht seine Eltern mit ihren Freunden vorbeilaufen gesehen hatte. „Komm zu mir, Dennis, wir reiten zusammen! Mein Pferd kennt keine Schranken, es ist sehr treu und hat mir auch schon mehrmals helfen können!“ Plötzlich streckte der Kaiser seine rechte Hand aus, als ob er nicht an die Wand gemalt, sondern ganz lebendig wäre, und holte Dennis zu sich. Dennis sprang hoch, griff die Hand des Kaisers und saß im nächsten Augenblick, wie vom Wind angehoben, schon auf dem Pferd. Dennis hielt sich am Pferd fest und fühlte eine wohlige Wärme… „Vorwärts!“ – sagte der Reiter und sie ritten rasch durch die schmalen Gassen des alten Viertels. Dennis war vollkommen begeistert, denn er ritt das erste Mal in seinem ganzen Leben. Trotz dieses beeindruckenden Erlebnisses, hatte er nicht vergessen, sich nach seinen Eltern umzuschauen. Er guckte hin und her, vor und zurück, aber seine Eltern waren einfach nicht zu sehen. 
   
Plötzlich bremste der Kaiser Friedrich sein Pferd. „Da ist ja mein alter Freund – Heini Holtenbein“ – sagte er und zeigte auf eine bronzene Figur eines Mannes mit Hut und einem langen Stock in der Hand. „Guten Abend, verehrter Heini! Dieser Junge namens Dennis hat sich verloren und kann seine lieben Eltern nicht mehr finden.“ – sagte unser Reiter zur bronzenen Figur. „Haben Sie vielleicht seine Eltern gesehen oder können uns mit einem guten Rat weiterhelfen? Wir sind bereits durch das ganze Schnoor-Viertel geritten…“ „Es tut mir leid, aber ich habe niemanden gesehen, der den Eltern dieses Jungen ähnelte. Ich stehe hier schon seit sehr langer Zeit und beobachte aufmerksam das Geschehen. Deshalb könnt ihr auf meine Worte vertrauen. Trotzdem kann ich euch aber auf eine besondere Art helfen!“ Nachdem er das sagte, zündete er sich plötzlich seine kubanische Zigarre an und streckte seinen langen Stock aus. „Jetzt gebe ich eurem Pferd ein bisschen Feuer, verehrter Kaiser!“ Er berührte mit seinem Stock nacheinander beide Beine des Pferdes und wünschte viel Glück bei der Suche. Das Pferd sprang hoch und landete im nächsten Augenblick bereits auf dem Dach des benachbarten Hauses, neben dem Gasthof. Dann sprang es mit einer Leichtigkeit, als ob weder das Pferd noch der Kaiser oder Dennis etwas wiegen würden, von einem Dach zum nächsten. Dabei konnten Dennis und der Kaiser sehr deutlich erkennen, was unten passierte. Aber trotz aller Bemühungen, konnten sie die Eltern von Dennis einfach nicht finden.
 
Ganz unerwartet sprang das Pferd so hoch, dass es in einer riesen großen Wolke landete. „Ich kann nichts sehen. Was ist passiert?“ – rief der Kaiser. Er bekam richtige Angst und konnte einfach nicht verstehen, was eigentlich geschehen war. Das Pferd fing an zu wiehern und Dennis machte seine Augen zu. So kräftig, wie er nur konnte, klammerte er sich an das Pferd. Aber zum Glück dauerte es nicht lange, bis sie aus der Wolke wieder herausritten. Nun war alles wieder gut zu sehen und das Pferd konnte weiter von einem Dach zum anderen springen. Bald erreichte es einen Platz neben dem alten Rathaus. Dort landete das Pferd wieder auf dem Boden und fühlte mit großer Freude das alte Kopfsteinpflaster unter den Hufen.
„Wo sind wir?“ – fragte Denis seinen Reiter. Es war sehr dunkel und niemand war auf diesem Platz zu sehen. „Was für eine dumme Frage?“ – hörte Dennis eine unbekannte und sehr unzufriedene Stimme sagen. Plötzlich machte jemand drei Mal „Kiri – Kuhu!“, dann noch jemand zwei Mal „Miau!“, noch ein anderer „Wau wau!“ und anschließend noch jemand „I-a-a!“. „Es scheint mir, als wüsste ich, wer das ist!“- dachte sich sofort der kleine Dennis. „Bestimmt sind das die Bremer Stadtmusikanten! Ein Esel, ein Hund, eine Katze und ein Hahn!“ Dennis war begeistert, denn er kannte und liebte dieses alte Märchen von den Gebrüdern Grimm. Er drehte seinen Kopf langsam zu den seltsamen Stimmen und konnte alle Vier ganz deutlich erkennen. Es waren nicht besonders große Bronzefiguren, die sprechen und sich bewegen konnten. „Wow! Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben ein fliegendes Pferd gesehen!“ – schrie ganz überrascht der Hahn. Er flatterte mit seinen Flügeln, als ob er selbst in die Luft abheben wolle, aber das gelang ihm nicht und so blieb er genau dort, wo er war. „Vielleicht probierst du es jetzt mal?“- fragte er den Esel. „Stimmt!“ „Probiere es doch mal aus!“ – unterstütze der Hund entschlossen den Vorschlag des Hahns. „Du siehst doch fast wie ein Pferd aus! Nur ein bisschen kleiner – naja – trotzdem schaffst du es ganz bestimmt, da bin ich mir sicher! Außerdem hast du auch Hufen, wie ein richtiges Pferd!“ Der Esel trat langsam mit einer üblichen Gehorsamkeit hervor und dann sprang er, nach einem kurzen Anlauf, so hoch, wie er nur konnte, in die Luft. Doch fliegen konnte er leider trotzdem nicht und seine ganzen „Passagiere“ wurden ganz traurig. „So ein Quatsch!“ – sagte die Katze. Sie war überall als eine sehr weise Persönlichkeit bekannt, denn sie war sehr klug und profitierte auch oftmals davon. „Weder Flügel, noch Hufen, spielen in diesem Falle eine Rolle! Ich weiß es genau, glaubt mir! Der Schlüssel ist dieser Junge. Ich denke, das ist der kleine Dennis, der seine Eltern verloren hat. Alle Bremer Katzen sprechen über ihn.“ Die Bremer Stadtmusikanten schlugen Dennis vor, sich von seinem treuen Freund, dem guten Reiter Kaiser Friedrich zu verabschieden und sich auf den Eselrücken zu setzen. Dennis war sehr stolz, dass die Bremer Stadtmusikanten ihn in ihren Kreis aufgenommen hatten.
    
Der Esel atmete tief durch, klopfte mit seinen Hufen gegen das alte Kopfsteinpflaster des Bremer Marktplatzes und plötzlich flogen alle hoch hinauf in den Himmel, sodass die Sterne und der Mond viel näher schienen, als die Hausdächer und Turmspitzen des alten Bremens. Es war so traumhaft schön durch den nächtlichen Himmel zu fliegen! Weiter unten, kaum zu erkennen war Kaiser Friedrich auf seinem treuen Pferd. Er winkte und schrie: „Viel Glück, lieber Dennis! Komm mich bald wieder besuchen!“ Aber Dennis konnte ihn nicht mehr hören…
Alle Fünf fliegenden Wanderer – Dennis, der Esel, der Hund, die Katze und der Hahn – waren unheimlich begeistert, denn sie fühlten sie noch nie so frei. Dabei flatterte der Hahn ununterbrochen mit seinen Flügeln – ganz überzeugt davon, dass er alle durch die Lüfte tragen würde. Sie flogen immer höher und höher.

Überraschend kam ein schrecklich starker Wind auf. „Achtung! Achtung! Turbulente Zone!“ – beruhigte die Katze. „Alle sollten sich nun gut festhalten! Hat jemand eine Schnur oder einen Riemen?“ Aber bevor ihr jemand antworten konnte, kam erneut eine starke Windböe und die gigantische fliegende Pyramide aus allen Fünf hob noch höher ab, drehte sich herum und flog schließlich in alle Richtungen auseinander. Jede Märchenfigur landete allein und schrie, sich hilflos und komisch bewegend.
Eine große Schneewolke hatte Dennis verschlungen und er fühlte sich dort fast wie in einem kalten aber flauschigen Federbett. Er fiel immer tiefer und tiefer. Es war so schön und angenehm, dass Dennis seine Augen schloss und den Fall genoss. Als er die Augen wieder öffnete, stand er wieder auf dem Boden und zwar an derselben Stelle, wo er seine Eltern verloren hatte. Vollkommen überrascht schaute er wieder das beleuchtete Schaufenster an. Neben ihm stand die große Weihnachtsmannfigur, mit der er zuvor gesprochen hatte.

Langsam rieselten große Schneeflocken vom Himmel auf die Erde. Der alte Schnoor war voll mit Spaziergängern, die miteinander sprachen und lachten. „Dennis komm schnell! Wir wollen uns beeilen – unser Zug wird bald abfahren!“ War das nicht die Stimme von Dennis´ Mutter? Dennis drehte seinen Kopf und sah seine Eltern mit ihren Freunden. Sie standen in der festlich geschmückten Gasse und redeten, als ob nie etwas passiert wäre. Wie war das möglich? „Bin ich etwa eingeschlafen? War das nur ein Traum? Und was ist mit den sprechenden Katzen, dem Reiter Kaiser Friedrich auf seinem Pferd und den Bremer Stadtmusikanten? Und dieser Heini mit seiner Zigarre hat auch niemals zu uns gesprochen?“ – fragte Dennis und schaute direkt in die großen blauen Augen der Weihnachtsmannfigur. Aber die große Figur schwieg. Nur die Augen lächelten geheimnisvoll und freundschaftlich!  


II. Der Rabe  und der Maler

Es war einmal ein ganz gewöhnlicher Rabe. Er war einer von denen, die voller Selbstachtung durch die gut gepflegten Alleen des Bürgerparks stolzierte. Manchmal sah man sie auch von einem Baum zum anderen überfliegen - stets auf der Suche nach einem bequemen Platz in der Höhe - wie es ihrem Selbstbewusstsein eben entsprach. Unser Rabe war nicht mehr besonders jung und niemals richtig glücklich gewesen. Er hatte schon viel erlebt und seine Weisheit brachte ihn in sein hohes Alter. Mit Hoffnungen und Illusionen war es jedoch vorbei - oft wollte er morgens einfach nicht mehr aufwachen, nicht mehr seinen Schnabel putzen oder irgendwo hin fliegen. "Wozu denn?" - dachte der Rabe "Jeden Tag passiert doch dasselbe..." Jede falsche Bewegung oder ein unvorsichtiger Sprung könnte bei ihm eine Herzstörung auslösen. Sehr oft war ihm schon schwindelig geworden und nachts bekam er häufig unerträgliche Rückenschmerzen. Er wusste über fast alles Bescheid - so dachte er zumindest, da seine lange Lebenserfahrung ihn in verschiedenen Bereichen sehr gut gelehrt hatte. Im Laufe seines Lebens hatte er unheimlich viel gehört und gesehen, aber genau das machte ihn noch trauriger...

"Ich verstehe nicht, warum du keine hübsche Krähe kennenlernen möchtest, um sie später zu heiraten?"- fragte ihn oft ein verwandter Rabe, der auch schon alt war und von der ganzen Familie sehr respektiert wurde.
"Was bringt es dir, wenn du den ganzen Tag zuhause bleibst und auf irgendeinen schönen Feuervogel wartest? Glaub mir, sie wird niemals kommen und du wirst auch nicht mehr jünger..." Sein Onkel hatte immer Recht, denn er hatte seinen Platz auf der höchsten Eiche des Bürgerparks und konnte alles überblicken und deshalb auch immer richtig entscheiden - so dachten zumindest seine Verwandten. Unser Rabe hörte sich jedoch nicht so gerne die klugen Sprüche seines Onkels an und versuchte immer schnell das Thema zu wechseln.

Das einsame Leben unseres Raben wäre völlig hoffnungslos und langweilig, wenn er nicht eine solch romantische Seele hätte, die immer an ein Wunder glauben wollte. Stundenlang konnte er einen Sonnenuntergang beobachten und sich darüber wundern, wie wunderschön die unterschiedlichen Farben am Himmel leuchten. Er liebte es auch die frische Luft zur Frühlingszeit tief einzuatmen, um die duftenden Gräser und Blüten zu riechen. Auch liebte er, sich stundenlang Blumen anzuschauen, da er davon gute Laune bekam. Und manchmal hatte er märchenhafte Träume von unbeschreiblich schönen paradiesischen Vögeln. All seine romantischen Neigungen hatte er jedoch sorgfältig vor seinen Verwandten und Bekannten verheimlicht - und zwar erfolgreich. Niemand aus seinem Umfeld wusste diese Dinge über unseren Raben.

Der nächste Tag fing bereits ganz furchtbar an. Alle erwarteten an diesem Tag, dass es endlich heiter und warm wird, doch stattdessen regnete es seit den frühen Morgenstunden ununterbrochen. Die allgemeine Stimmung zwischen den Raben war entsprechend getrübt und traurig. Unser alte Rabe fühlte sich bei solch einem Wetter immer besonders schlecht. Als er an diesem Tag sein Lieblingsbuch über einen tapferen Seefahrer zuende gelesen hatte, wusste er nicht, was er als nächstes machen sollte, um diesen langweiligen Tag rumzubekommen. Er stellte fest, dass keine einzige Idee ihn wirklich "beflügeln" konnte. Vielleicht sollte er mit jemandem ein paar Stündchen Schach spielen? Aber wer würde sein gemütliches Nest bei solch einem Regen verlassen wollen? So entschied der Rabe sich dazu, einfach so früh wie möglich schlafen zu gehen. Plötzlich bekam er aber ganz unerwartet und ohne erkennbaren Grund starke Schmerzen - vom Kopf bis in die Spitzen seiner Federn! Wir Menschen würden das Zahnschmerzen nennen! Sein Schnabel tat ihm so weh, dass es kaum zu ertragen war. Er konnte weder schlafen, noch essen und auch keinen klaren Gedanken mehr fassen. Wie oft hatte er sich bereits vorgenommen zu seinem guten Bekannten - dem Specht - zu fliegen, um sich eine Füllung machen zu lassen. Er war ein sehr guter Zahnarzt und konnte jedem helfen, der unter Zahnschmerzen litt. Aber gerade heute mit solchen Schmerzen bei diesem Wetter dort hin zu fliegen – das hat ihm gerade noch gefehlt! Trotzdem musste er sich schnell entscheiden, denn sein Schmerz wurde immer stärker und er konnte seine Medizin nicht mehr finden. Er nahm seinen alten Regenschirm, den er schon lange nicht mehr benutzt hatte und flog verzweifelt los….“Zuerst fliege ich zu meiner Tante Klara. So wie ich sie kenne, hat sie alle Medikamente der Welt bei sich gesammelt.“

Seine Tante Klara war eine alte gutherzige Krähe und wohnte im Schnoor – dem ältesten Viertel Bremens. Sie interessierte sich so sehr für verschiedene Krankheiten und ihre Behandlungen, dass ihre kleine Wohnung fast schon wie eine Apotheke aussah. Der hohe Baum, in dem Klara wohnte, stand genau vor den gut beleuchteten Fenstern einer Dachstube. Deshalb konnte sie auch zu jeder Tageszeit gut lesen, was auf ihren vielen Medikamentendosen geschrieben stand. Als unser Rabe diesen Baum erreichte und ein paar Mal gegen die Tür klopfte, machte leider niemand auf. Er wartete eine Weile und trat dann langsam in die Wohnung, obwohl er ja eigentlich nicht eingeladen war. Tante Klara war gerade nicht da aber auf einem alten rostigen Nagel sah der Rabe einen Zettel hängen: „Ich bin bald zurück. Hole nur schnell die neuen Akupunkturnadeln. Klara.“ Schlimmer hätte es nicht kommen können! Trotz all dieser unglücklichen Zufälle und Umstände entschied sich der Rabe auf Klara zu warten, denn sein Schmerz wurde immer schlimmer und bei Klara war es zumindest trocken und gemütlich. Er machte es sich bequem und schaute in das Fenster der Dachstube, das vor Klaras Wohnung war.

Der gut beleuchtete Raum, in den er hineinschaute war sehr unordentlich. Überall lagen Sachen, die pyramidenähnlich übereinander gestapelt waren. Es sah so aus, als ob noch nie jemand in dieser Wohnung aufgeräumt hätte. Schon bald bemerkte unser Rabe aber mitten in diesem Chaos ein Bild, das auf einer Staffelei stand. Das Motiv, was auf diesem Bild zu sehen war, brachte ihn sofort in eine euphorische Begeisterung. Ihm wurde plötzlich ganz schwindelig und er spürte keinen Schmerz mehr. Direkt vor seinen Augen konnte er seinen langjährigen Traum sehen – einen wunderschönen paradiesischen Feuervogel, von dem er schon sein ganzes Leben lang träumte. Er wusste schon immer, dass er sie irgendwann und irgendwo mal treffen würde. Sie war genauso schön, zierlich und elegant, wie er sie sich immer vorgestellt hatte. In ihrem bunt schimmernden Federkleid saß sie zwischen prächtigen Blumen und schaute ihn an. Sie war einzigartig und sah keinem anderen Vogel ähnlich – erst recht nicht den schwarzen Krähen, die reichlich in seinem Bekanntenkreis vertreten waren. Auch die blauen Tauben, die immer auf der Suche nach etwas Essbarem auf ihren kurzen Beinchen komisch herumsprangen, waren ihm nicht besonders sympathisch. Wie lange hatte er aber schon auf seinen Traumvogel gewartet. Und jetzt in einem Alter, wo sein Leben schon fast vorbei ist, jetzt hat er sie endlich gefunden…Seine Euphorie wechselte plötzlich in eine verzweifelte und enttäuschte Stimmung und seine Augen füllten sich mit Tränen. Außerdem war sein Traumvogel sowieso nur auf einem Bild zu sehen, sodass er nicht wusste, wo sie in Wirklichkeit lebt. Auf der grünen Wiese neben ihr saß eine bezaubernd hübsche junge Frau, die wie eine Märchenfee aussah. Ihre langen seidig-glänzenden Haare wehten scheinbar im Wind und schimmerten malerisch auf ihren zierlichen Schultern. Sie streckte ihre Hand vertrauensvoll dem Feuervogel entgegen und lächelte herzlich. Es schien so, als ob die Liebe und das Glück höchstpersönlich diese künstlerische Szene erschaffen hätten. Aber trotzdem war es nur ein Bild, ein märchenhaftes Bild, das bloß mit Öl auf eine Leinwand gemalt war.

Plötzlich bemerkte unser Rabe einen Mann, der in einem großen Sessel in der Ecke des Raumes saß. Er hatte einen Bart, ziemlich lange lockige braune Haare und trug einen grob gestrickten roten Pullover. Er rauchte eine Pfeife und bewegte sich kaum. Stattdessen schaute er sich einfach nur das Bild an und schien tief in seine eigenen Gedanken versunken. Vor ihm standen Kisten mit Ölfarben, lagen Pinsel in allen verschiedenen Größen und eine Menge mit Farbe verschmutzter Lappen. Auf dem Fensterbrett zwischen all den alten Büchern und Zeichnungen stand eine Tasse mit Kaffee, der wahrscheinlich schon lange kalt war. Der Rabe hatte sofort verstanden, dass dieser Mann höchstwahrscheinlich genau der Maler war, der dieses traumhafte Bild gemalt hatte. Er wohnte in dieser Dachstube, malte seine schönen Bilder und wusste ganz bestimmt, wo diese junge Frau und der Feuervogel zu finden sind. ..

Von diesem Moment an dachte unser alte Rabe nur noch an das Bild mit dem paradiesischen Vogel und der schönen Frau. Alles andere wurde für ihn nebensächlich. Er hatte das Gefühl das alles, was in seinem Leben je passiert war, ihn nur auf diesen Moment vorbereitet hätte, in dem er endlich mit seinem Traum konfrontiert wurde. Der Maler hatte inzwischen mit seiner alltäglichen Arbeit begonnen. Er nahm die Pinsel in die Hand und versuchte aus verschiedenen Farben eine passende zu mischen. Schweigsam sah er sich das Bild an, lehnte seinen Kopf mal nach links, dann nach rechts und schloss anschließend abwechselnd erst das eine und dann das andere Auge, um die Feinheiten seines Bildes besser erkennen zu können. „Etwas fehlt noch“ – sagte er und führte seinen Pinsel mit der Farbe direkt in Richtung des Feuervogels. Unser Rabe, der den Maler die ganze Zeit aufmerksam beobachtete, erschrak und rief hilflos: „Vorsicht! Ich bitte sie. Tun sie das nicht!“ „Wer ist da?“ – fragte der Maler erstaunt - „Wer spricht mit mir?“ Er drehte sich um und sah plötzlich den schwarzen Vogel, der in diesem Moment gerade zu einem Ast übergeflogen war. Dieser Ast war genau vor dem Fenster des Malers. Deshalb konnten die beiden sich nun direkt anschauen und gut hören.

„Entschuldigen sie bitte, ich wollte sie nicht erschrecken, aber…Ich hatte nur Angst, dass sie zufällig etwas falsches machen und die Schönheit dieses Vogels zerstören.“ Unser Rabe war etwas verstört, denn normalerweise war es nicht seine Art, jemanden zu stören, besonders nicht während der kreativen Arbeit und dazu auch noch in seiner eigenen Wohnung…“Kommen sie doch bitte rein!“ – sagte der Maler – „Sie sind ja ganz nass und können sich erkälten. Es regnet ja!“ Er räumte seinen Tisch auf, verlegte alte Zeichnungen, Skizzen und Stifte auf einen Stuhl und machte Platz für seinen Gast. Der Rabe war sehr überrascht und gleichzeitig dankbar für solch eine Höflichkeit. Er mochte aber nicht durch das Fenster, sondern lieber durch die Tür in die Wohnung treten, denn er hatte eine sehr gute Erziehung.

„Ich verstehe nicht, warum sie so unruhig geworden sind. Sehen sie doch, ich wollte nur etwas verbessern. Ich denke, dass diesem Vogel nur noch ein ganz kleiner blauer Fleck am Hals fehlt – meiner Meinung nach wäre er dann noch viel schöner. Sind sie einverstanden, oder nicht?“
Er brachte seinem unerwarteten Gast eine Tasse mit heißem Tee, nahm seinen alten Regenschirm und stellte ihn zum Trocknen in die Ecke des Zimmers. „Danke sehr, ich danke ihnen vielmals!“  sagte unser Rabe „Das Wetter ist heute einfach grausam und ein heißer Tee ist jetzt genau das Richtige, eine wunderbare Rettung!“ Der Rabe war zwar von dem netten Empfang völlig begeistert, wollte aber trotzdem das Gespräch über das Bild fortführen. „Sind sie wirklich sicher, dass dieser blaue Fleck unbedingt nötig ist?“- fragte er vorsichtig und blickte direkt in die Augen des Malers. Der Maler schwieg eine Weile, dann zuckte er mit seinen Schultern und antwortete verunsichert: „Ich glaube, dass ich diesen Fleck dort gesehen habe, aber nun kann ich mich nicht mehr so genau daran erinnern…“Aber sie könnten das doch sicher überprüfen, nicht wahr?“ – fragte der Rabe ganz aufgeregt. Sein Herz raste so sehr, dass er für einen Moment das Gefühl hatte, als ob es ihm gleich rausspringt. „Verraten sie mir doch bitte, wo dieses paradiesische Vöglein ist. Wo haben sie diese Szene gesehen? Wir könnten doch sofort hinfliegen, oder – Entschuldigung – hingehen, natürlich nur wenn sie das wollen, um diese Details noch einmal zu sehen und festzustellen, ob sie alles richtig malen!“
„Was sagten sie bitte?“ – der Maler hatte offensichtlich gar nicht mehr zugehört, denn er war völlig in seinen Gedanken versunken. „Sie fragen mich etwas über diesen Vogel? Sie wollen wissen, wo ich sie gesehen habe? Diese beiden waren auf einer paradiesischen Wiese, direkt am Strand eines Meeres oder eines Sees…Sie saßen zusammen, so schön und friedlich. Eine frische Meeresbrise streichelte das Haar des Mädchens…“ „Aber wo? Wo genau befindet sich dieser Strand? – fragte unser Rabe ganz entschlossen. „Das kann ich leider nicht beantworten…ich weiß das nicht. Aber ich würde alles dafür geben, um diesen Strand zu finden!“ – sagte der Maler und schaute hoffnungsvoll und gleichzeitig verzweifelt in die Augen des Raben. Der Rabe konnte das alles nicht verstehen. Sein Kopf drehte sich und ihm wurde wieder ganz schwindelig. Um die Situation zu retten, tauchte er seinen Schnabel in die Tasse und nahm einen großen Schluck von dem Tee. „Würden sie mir bitte erklären,“ – fing er erneut an und sprach jedes Wort ganz stockend aus „wo und wann sie dieses Bild – dieses unglaublich schöne Bild – gemalt haben? Sie haben die beiden am Strand portraitiert, nicht wahr?“ „Sehen sie,“ – antwortete der Maler nachdenklich, „man könnte das natürlich so sagen, aber…wie soll ich das bloß erklären? Ich portraitierte sie, nachdem ich aufgewacht bin, denn das war alles nur ein Traum. Und es war der schönste Traum meines Lebens! Alles, was sie jetzt sehen können, ist nur eine Verwirklichung meines Traumbildes… Mein ganzes Leben lang zeichnete ich verschiedene Frauengesichter und versuchte damit endlich mein Ideal zu finden. Ich habe wahrscheinlich schon über Tausend Portraits gemalt. Alle waren sie so verschieden, aber ihre Gesichter waren immer schön: lachend oder traurig, mit kurzem lockigem Haar und mit langen blonden Haaren – sie waren alle so unterschiedlich, aber trotzdem war keines dieser Frauengesichter schön genug. Immer wenn ich ein neues Portrait gemalt hatte, faszinierte mich das neue Gesicht noch mehr, so dass ich das vorherige bereits vergessen hatte.“ Der Maler zeigte dem Raben einige Bilder, von denen eine große Menge an die Wand gelehnt stand. „Aber von diesem Traum  bin ich bis heute vollkommen gefesselt. Das Gesicht dieses Mädchens ist mein Ideal! Alles, was ich danach gesehen hatte, ließ mich vollkommen gleichgültig. Dieses Bild habe ich sofort angefangen zu malen und, wie sie nun sehen können, ist es fast fertig. Noch heute kann ich mir stundenlang dieses Bild anschauen, ohne dass meine Faszination sich verringert. So etwas habe ich noch nie in meinem Leben erlebt. Niemals!“ Damit beendete der Maler seine Offenbarung und schaute den Raben an. Seine großen Augen waren voller Tränen.

„Hören sie, mein Freund“ – sagte der Rabe unerwartet laut und optimistisch – „Ihre Geschichte ist so wunderbar! Sie und ich – wir beide sind einfach nur zwei Glückspilze! Jetzt weiß ich ganz genau, was wir zu tun haben! Aber vor allem müssen sie jetzt sofort schlafen gehen, denn morgen früh geht es los. Sie und ich, wir beide sollten in guter Form sein, denn wir brauchen viel Kraft und Mut, um unsere Pläne zu verwirklichen! Ich fliege jetzt nach Hause und morgen mit den ersten Sonnenstrahlen werde ich wieder zurückkommen und ihnen von meinen großen Plänen erzählen! Also gute Nacht, mein Freund, bis morgen!“ – sagte der Rabe aufgeregt und flog raus.

Zum ersten Mal in seinem Leben waren die Nacht und die Dunkelheit ganz unerträglich für unseren Raben. Zum ersten Mal bekam er auch bei sich zuhause keine Luft mehr und wartete ganz ungeduldig und nervös auf den Sonnenaufgang. Er bereitete schon mal alles vor und packte seine Sachen zusammen, dann schaute er sich nochmal in seinem Zimmer um. Wie hatte er es bloß so lange hier ausgehalten? Ohne Freunde, ohne die kleinste Freude in der Seele und ohne jegliche Liebe oder Begeisterung… Worauf hatte er bloß so lange gewartet? Auf was hatte er gehofft? Er warf noch einen letzten Blick auf seine Sachen und verließ sein Nest ohne das kleinste Bedauern zu empfinden. Bald traf er auf dem Weg seinen alten Freund – den Zahnarzt-Specht. Wie immer hatte er dem Raben auch heute seine ärztliche Hilfe angeboten und erklärte dabei, dass die Füllung eine ganz harmlose Sache sei, die nicht länger als fünf Minuten dauere. Doch unser Rabe wollte, trotz seines gestrigen Schmerzanfalls, nicht darüber nachdenken. Er wollte nur so schnell wie möglich zu seinem neuen Freund, dem Maler…Dabei dachte er sich schon fast ironisch, dass seine Zahnschmerzen, oder - wie es das Vogelvolk nennt – Schnabelschmerzen manchmal doch sehr nützlich sein können!

Die Morgenstunden waren unbeschreiblich schön und der Frühling zeigte endlich sein Gesicht. Grüne Blätter, Gräser und Blumen sahen so frisch und glänzend aus und dufteten traumhaft nach dem gestrigen Regen…Besonders schön war auch der Vogelgesang an diesem sonnigen Morgen.  Der Maler, der genauso wie der Rabe die ganze Nacht nicht richtig schlafen konnte, lag in seinem Bett und wartete. Er hatte keine Ahnung, was passieren könnte aber sein Herz und seine sensible Seele hofften auf irgendein Wunder! Ungeduldig beobachtete er die Tür und lauschte nach jedem Geräusch hinter dem Fenster. Plötzlich hörte er jemanden leicht gegen die Tür klopfen. Bestimmt war es der sympathische Rabe. Gott sei Dank war er wieder da! – dachte der Maler. „Jetzt erfahre ich endlich, was wir vorhaben.“ Der Maler ließ seinen neuen Freund hereintreten. Der Rabe stand mit einer schicken Frisur und einem strahlenden Lächeln vor ihm. Unter seinem Flügel hielt er eine alte geographische Landkarte, einen schwarzen Regenschirm und ein kleines Schachbrett. Alle seine Sachen waren akkurat verpackt in einem mehrmals geflickten Rucksack. Er erklärte dem Maler, dass sie keine Zeit verlieren sollten und sich so schnell wie möglich auf den Weg machen müssten. Es gibt so viele Seen und Meere auf dieser Welt, dass sie viel Zeit bräuchten, um sie alle zu besuchen. Irgendwann und irgendwo werden sie ganz bestimmt dieses Traummädchen mit dem paradiesischen Vogel finden!
Die Sonne stand hoch und die Luft war sehr warm. Ein langer und breiter Weg erstreckte sich durch Wälder und Felder. Große und sichere Schritte des Malers zeigten seine Entschlossenheit und seinen Enthusiasmus. Auf seinen Schultern saß der Rabe. Begeistert beobachtete er die wunderschönen Blumen, die überall blühten. Aber mit einer viel größeren Begeisterung beobachtete er, dass sein eigenes Herz aufblühte – wie eine riesige rote Blume der Liebe und Hoffnung…  
  
III. Schmetterling - Susanne

Bestimmt konnte Susanne sich nicht mehr an alles erinnern, denn damals war sie noch ein kleines Baby und träumte süß in ihrem Kinderwagen. Es war ein schöner sonniger Tag, obwohl der Herbst schon längst begonnen hatte. Ihre Mama machte mit der kleinen Susanne gerade wieder den üblichen Spaziergang in einer wunderschönen Gegend am Wall. Sie genoss die Schönheit der Natur im späten Herbst: alle Bäume und Büsche hatten eine glühende Farbe und spiegelten sich malerisch in dem von goldenen Blättern bedeckten ruhigen Wasser. Es war gerade so erholsam und friedlich als plötzlich von irgendwo eine riesige schwarze Krähe angeflogen kam. Sie flog direkt auf Susannes Kinderwagen zu und schrie dabei ganz laut und schrecklich. Die Mama hatte furchtbare Angst, dass Susanne aufwachen und zu weinen beginnen könnte. Die fing an, den unerwünschten Vogel mit unterschiedlichen Gesten zu verscheuchen. Aber die Krähe wollte einfach nicht wieder davon fliegen – sie kreiste weiter um die kleine Susanne und schrie ganz furchtbar… Die Mama war völlig verzweifelt, nahm einen dicken Stock und warf ihn mit voller Kraft auf die Krähe so, dass diese sofort getroffen wurde und mit einem lauten Schrei in den verzweigten Baumkronen verschwand. Bei ihrer Flucht verlor sie eine riesige schwarze Feder. Susannes Mutter schaute sich diese Feder genau an und bekam dabei ein sehr komisches und trauriges Gefühl in ihrem Herzen…
 
Viel Zeit ist seit diesem Tag vergangen. Susanne ist mittlerweile erwachsen geworden und feierte schon ihren dreizehnten Geburtstag. Seit den frühen Morgenstunden kümmerten sich Susanne und ihre Mutter bereits um das festliche Essen - sie räumten die Wohnung auf und schmückten sie mit schönen Girlanden. Susanne hatte viele Gäste eingeladen und wollte unbedingt, dass ihre Geburtstagsfeier wunderschön und feierlich wird. Ihre Seele war ganz zärtlich und ihr Herz warm; sie liebte ihre Mutter, all ihre Freunde und sogar die Nachbarn sehr. Zur Mittagszeit klingelte es an der Tür. Wer konnte das bloß sein? Für die Gäste war es noch viel zu früh! Sie öffnete die Tür und sah eine komische Verpackung – einen fliederfarbenen Karton mit schwarzer Schleife. „Mama, komm schnell! Jemand möchte mich zum Geburtstag überraschen. Ich glaube, es ist ein Geschenk! Lass es uns schnell auspacken!“ Sie packten den Karton aus und sahen ein große schwarze Feder. Sie lag mitten auf dem samtigen Stoff und leuchtete geheimnisvoll. „Ein sehr komischer Witz!“ – sagte Susanne enttäuscht, aber was sollte das bedeuten? Susannes Mutter schaute sich mit großer Angst die Feder an. Sie erinnerte sich gut an den Tag, an dem sie die schwarze Krähe mit einem dicken Stock getroffen hatte.
  
Das Geburtstagsfest von Susanne war vorbei und alle Gäste waren wieder nach Hause gegangen. Susanne war sehr glücklich und zufrieden: sie hatte viel gelacht und viel getanzt! In ihrem neuen Kleid, das sie von ihrer Mama zum Geburtstag bekommen hatte, sah sie aus wie eine echte Prinzessin. Langsam war es höchste Zeit um ins Bett zu gehen. Susanne gab ihrer Mutter einen Gute-Nacht-Kuss und ging auf ihr Zimmer, wo sie bald in einen tiefen Schlaf versank. Am nächsten Morgen ging Susannes Mutter in ihr Zimmer, um sie pünktlich zum Frühstück zu wecken. Sie klopfte an die Tür – doch Susanne war nicht da. Auf ihrem Kissen lag nur eine schwarze Feder. Die Mutter war ganz verzweifelt; sie rief nach Susanne, durchsuchte alle Räume der Wohnung, aber niemand außer ihr war zuhause.
  
Seit diesem Tag hatte niemand mehr Susanne gesehen: sie war einfach verschwunden. Ihre Mutter war so traurig, dass sie nicht mehr aufhören konnte zu weinen. Sie verbrachte viele Stunden in Susannes Zimmer in der Hoffnung, irgendwann Susannes Schnitte an der Treppe zu hören oder sie aus dem Fenster nach Hause kommen zu sehen. Alle Bewohner des alten Schnoors waren stets auf der Suche nach ihr, denn sie liebten dieses Mädchen und konnten sich einfach nicht vorstellen, dass Susanne nie mehr nach Hause kommt. Das Haus, in dem Susanne mit ihrer Mutter lebte, war ganz still und traurig geworden. Nur ein kleiner fliederfarbener Schmetterling flog durch Susannes Zimmer. Seine kleinen Flügel waren leicht und durchsichtig - sie machten leichte Geräusche beim häufigen Flattern. Die Mama beobachtete das wunderschöne Wesen mit einer besonderen Zärtlichkeit. Wahrscheinlich erinnerte die Farbe des Schmetterlings sie an das fliederfarbene Kleid ihrer Tochter. Und das war kein Zufall, denn dieser Schmetterling war Susanne! Eine böse Hexe hatte sie in einen Schmetterling verwandelt, um ihre Mutter für die Tat zu bestrafen, die sie vor vielen Jahren begangen hatte. Die Hexe war die schwarze Krähe, die Susannes Mutter damals mit einem großen Stock getroffen hatte. Aber Susannes Mutter wusste natürlich nichts davon…Am Morgen, als ein heller Sonnenstrahl ein Susannes Zimmer schien, hatte die Mutter starkes Mitleid mit dem kleinen Schmetterling. „Na los, Kleine! Draußen ist es doch viel schöner als hier drin!“ – sagte sie und öffnete das Fenster. Schmetterling Susanne flog durch das Fenster immer höher und höher. Es war so ein unbeschreiblich schönes Gefühl – hoch im freien Himmel zu fliegen! Sie war so leicht und konnte so hoch fliegen, wie sie nur wollte…Dort unten hatte sie sich die schönsten Blumen ausgewählt und ab und zu flog sie runter, um sich auf ihnen auszuruhen. Sie schien ganz so, als ob Susanne ihre Traurigkeit ganz vergessen hätte – so verzaubert war sie von ihrem märchenhaften Flug als Schmetterling!
 
Plötzlich wurde es so windig, dass Susanne nicht mehr so leicht ihre schönen leichten Flügel bewegen konnte. Große graue Wolken bedeckten den Himmel, es donnerte und blitzte und jede Sekunde konnte ein Regenguss beginnen. „Was soll ich bloß tun? – dachte Susanne. Sie war bekam große Angst. „Was passiert mit meinen Flügeln wenn es anfängt zu regnen? Ich bin doch nur ein kleiner Schmetterling!“ – dachte sich die verängstigte Susanne und wollte am liebsten so schnell wie möglich nach Hause fliegen. Aber ihre Mutter hatte alle Fenster der Wohnung geschlossen, als sie den ersten Donner hörte. Ganz verzweifelt sah Susanne noch ein geöffnetes Fenster in dem nebenstehenden Haus und flog schnell hinein mit der Hoffnung, dass sie sich dort vor dem schrecklichen Gewitter verstecken könnte.

Das Zimmer, in das Susanne hineingeflogen war, erkannte sie sofort. Es war die Wohnung eines befreundeten Jungens. Sein Name war Matthias und er besuchte die selbe Schule wie Susanne. Matthias saß gerade vor seinem Computer und schien sehr beschäftigt zu sein, als er das stürmische Wetter bemerkte. Schon bald kam seine Mutter ins Zimmer und schloss mit einem leichten Geschimpfe das Fenster. Gott sei Dank war Susanne schon längst drin, denn draußen wurde das Gewitter immer schlimmer und es regnete ununterbrochen. Susanne saß auf einer großen roten Blume, die in einem Blumentopf auf der Fensterbank wuchs. Eigentlich hätte man Susanne gut erkennen können aber Matthias bemerkte sie einfach nicht – er interessierte sich nur für sein Computerspiel. Plötzlich klopfte jemand an seine Zimmertür. „Komm rein!“ – rief Matthias. Er erwartete seinen Freund Sascha, um zusammen zu spielen. Es war tatsächlich Sascha – Susanne kannte ihn auch. Er war ein sportlicher und sehr sympathischer Junge mit großen blauen Augen. Außerdem machte er immer Witze und brachte alle damit zum Lachen. Susanne war ein bisschen verliebt in ihn. In seinen Händen hielt er eine seltsame Box – so etwas hatte Susanne noch nie zuvor gesehen. „Guck mal Matthias! Das ist mein ganzer Stolz – eine neue Kollektion exotischer Schmetterlinge! Die wollte ich dir schon lange mal zeigen.“ – sagte Sascha und öffnete seine Box vor Matthias` Augen. Er erwartete eine große Begeisterung von seinem besten Freund, doch Matthias war überhaupt nicht begeistert, sondern eher enttäuscht – er verspürte offensichtlich Mitleid mit diesen wunderschönen und unbeholfenen kleinen Wesen. Alle Schmetterlinge in Saschas Box waren tot. Einmal grausam gefangen – entweder im Flug oder auf einer Blume sitzend – wurden sie für immer mit einem Nagel an ein Brett genagelt. Das dachte sich Matthias und wollte nicht weiter darüber sprechen.
 
Plötzlich bemerkte Sascha, dass auf der roten Blume ein wunderschöner fliederfarbener Schmetterling saß. Susanne hatte sofort verstanden, dass sie nun in großer Gefahr war. Denn Sascha hatte großes Interesse daran, einen so schönen Schmetterling wie Susanne in seine Sammlung aufzunehmen. Susanne hatte große Angst und bewegte sich nicht mehr. „Schau mal, Matthias. Auf deiner Fensterbank sitzt das schönste Ding, was ich unbedingt noch haben muss. Lass ihn uns fangen! Hilf mit, bitte!“ – sagte Sascha und ging vorsichtig auf die rote Blume zu. Susanne hob so schnell wie sie konnte ab und flog möglichst hoch oben durch das Zimmer. Sascha wurde wütend und fing an mit seinen Armen bedrohend nach ihr zu schlagen: „Ich kriege dich noch! Du wirst mir nicht entkommen! Halt! Du bist doch schon fast in meiner Sammlung – festgenagelt!“ Matthias konnte sich das alles nicht mit ansehen und wollte unseren Schmetterling von Saschas aggressiven Plänen verschonen. Schnell sprang er über sein Sofa und öffnete das Fenster. Das war eine echte Rettung für Susanne – eine ritterliche Tat! „Hey, was hast du getan?“ – rief Sascha, aber Susanne war schon draußen und in sicherer Freiheit.
  
Als Susanne vor Matthias` gefährlichem Freund Sascha befreit in Sicherheit war und sich wieder wohl fühlte, wollte sie sich zunächst einmal ausruhen. Unter sich bemerkte sie eine wunderschöne Blume – einen gelben Löwenzahn. Sie flog schnell runter und setzte sich darauf. Draußen war es ganz herrlich – alles strahlte und blitzte nach dem Regen und die Luft war rein und erfrischend. Plötzlich sah sie eine dicke wollige Katze. Sie streckte eine Tatze so aus, als ob sie sich gerade auf eine Jagt vorbereitete. Kein Wunder – denn der fliederfarbene Schmetterling – Susanne sah auf der gelben Blume sehr verlockend aus. Susanne war also wieder in Gefahr!  Sie flatterte hoch in die Luft und setzte sich auf eine andere Blume weit weg von der Katze. Aber die Katze hatte den Flug beobachtet und wollte mit ihrer spannenden Jagt noch nicht aufhören. Susanne flog von einer Blume zur nächsten, bis sie endlich einen sicheren Platz erreichte.  
Das war eine ganz seltsame Blume… Etwas später bemerkte Susanne erst, dass diese Blume überhaupt nicht echt, sondern eine künstliche Blume auf dem Hut einer Dame war. Das war ein großes Glück für Susanne, denn diese Blume war für die dicke Katze nicht mehr erreichbar. Sie miaute nur unzufrieden und sprang ein paar Mal um die Dame herum, bis sie schließlich verzweifelt weg ging.
 
Die Dame hatte natürlich keine Ahnung, was passiert war. Sie stieg in einen Wagen und fuhr los. Das Taxi brachte Susanne immer weiter und weiter von ihrem Zuhause weg. Erneut fühlte sich Susanne sehr unwohl. Die saß regungslos auf der Blume, die auf dem Hut dieser attraktiven Dame festgeheftet war. Aber wohin fuhren sie bloß?  - fragte sich Susanne, während sie durch das Fenster versuchte, die Umgebung zu erkennen. Schon bald kamen sie ans Ziel – es war der Flughafen – Susanne war schon mehrmals mit ihrer Mutter dort gewesen. Auf dem großen Rollfeld standen riesige Flugzeuge – wie große weiße Vögel – und warteten geduldig auf ihre Abflugzeiten. Susanne war erneut ganz verzweifelt, denn sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie dachte sich, dass sie besser auf dem Hut der Dame bleiben sollte, denn alleine könne sie es doch niemals schaffen nach Hause zu fliegen, da sie den Weg nicht kannte. Schließlich würde die Dame ja irgendwann wieder in den Schnoor zurückkehren. Nach einiger Zeit waren sie schon im Flugzeug und warteten auf den Start…
  
Das Flugzeug ist endlich gelandet: das Ziel war scheinbar ein Urlaubsort. Bereits aus dem Fenster konnte man die wunderschöne Landschaft erkennen – malerische Gebirge, exotische Blüten, Palmen und das Meer. Im Hotel, in dem die Dame untergebracht war, blieb sie nur eine ganz kurze Zeit, denn sie wollte lieber so schnell wie nur möglich zur herrlichen Strandpromenade. Dort herrschte eine richtig fröhliche Atmosphäre  -  Musik, zufriedene Gesichter und viele sommerlich gekleidete Menschen, die mit einer großen Begeisterung den Sonnenuntergang beobachteten. Susanne saß immer noch auf dem blumigen Hut der Dame und versuchte zu erraten, in welchem Land sie sich gerade befand. Vielleicht war sie in Italien oder in Spanien? Aber die Menschen sprachen so viele unterschiedliche Sprachen – viele von ihnen auch Deutsch. Ab und zu wurde es sehr windig und es kostete Susanne viel Mühe, sich auf der Blumenbrosche der Dame zu halten.

Plötzlich traf die Dame eine Familie mit der sie bekannt war – ein Vater, eine Mutter und ihre beiden Kinder. Aus ihrem Gespräch erfuhr Susanne, dass sie auch aus Bremen kamen und heute noch mit dem Auto wieder nach Hause fahren wollten. Was für ein Glück für Susanne! Aber die Dame war offensichtlich sehr enttäuscht. Die kleine Tochter bemerkte indes den wunderschönen Schmetterling auf dem Hut. „Guck doch mal, Mutti! Diese Brosche auf dem Hut sieht aus wie ein echter Schmetterling!“ Die Dame verstand nicht, wovon das kleine Mädchen sprach. Sie hob ihre Hand vorsichtig und tastete die Brosche ab.  Susanne bekam Angst und flog weg vom Hut der Dame.  „Was soll ich machen? Was soll ich denn nun machen?“ – ihr Herz raste, denn sie durfte die nette Familie aus Bremen auf keinen Fall aus den Augen lassen! Es führte kein Weg daran vorbei – Susanne musste mit ihnen nach Hause fahren!

Die Sonne – eine brennende purpurrote Kugel am Horizont – senkte sich langsam und triumphierend ins Meer. Der Wind hatte sich beruhigt und es wurde dunkler und dunkler... Der Strand und die lange Promenade erstrahlen mit festlichen Lichtern, Girlanden, bunten Geschäften, Restaurants und kleinen Laden voller Urlauber. So viele Menschen, die lachten, redeten und langsam flanierten, brachten Susanne ständig in die Gefahr, dass sie sich verirrt. Mit einer großen Aufmerksamkeit folgte sie der Bremer Familie bis zum Hotel und wartete dort neben dem Eingang auf ihre Abfahrt. Langsam und unruhig verging diese Zeit: eine Stunde, und noch eine Stunde... aber dann, endlich, erschien die Familie mit zwei großen Koffern sowie vielen kleinen Taschen und Rucksäcken. Sie packten ihr Gepäck in den Kofferraum des Wagens und diskutierten nebenher, wie sie die vielen Sachen besser verteilen sollten: „Katrin, gib mir doch bitte mal deine Tasche mit dem Spielzeug. Hier ist noch Platz dafür!“ – rief die Mama. „Ich darf keine einzige Minute verlieren “ – dachte sich Susanne – „sonst schließen sie gleich den Kofferraum und ich bleibe draußen!“ Schnell flog Susanne runter in Richtung Kofferraum und setzte sich auf den bunten Spielzeugkoffer. Niemand hatte sie bemerkt, denn Katrins Spielzeug war ganz bunt gemustert und die kleine Susanne konnte sich dazwischen gut verstecken. Der Kofferraum wurde schon bald geschlossen und Susanne bereitete sich auf einen langen Weg in der völligen Dunkelheit vor.  Wann wird sie wohl endlich wieder ihre Lieblingsstadt – das grüne alte Bremen sehen...?
Nach langer Fahrtzeit verringerte das Auto endlich die gewohnte Geschwindigkeit und fuhr langsam. Susanne erkannte ein Fahrtgeräusch, das sie stark an die schmalen und steinigen Gassen des Schnoors erinnerte.  „Ich bin zuhause! Ich bin zuhause!“ – freute sich Susanne innerlich – „gleich sehe ich endlich meine Mutter wieder! Gott sei Dank!“ Der Kofferraum öffnete sich und die kleine Katrin beeilte sich schon, um ihren Spielzeugkoffer aus dem Auto zu holen. Sie streckte ihre Hand zur Tasche und erblickte genau in diesem Moment plötzlich den wunderschönen Schmetterling. „Mutti, Mutti!“ – rief sie ganz begeistert, - „unser Schmetterling von der Brosche der Nachbarin ist hier!“ In diesem Augenblick flog Susanne erschrocken hoch in die Luft und schnell weg.

Mit einer großen Freude stellte Susanne fest, dass sie wieder durch Ihre Straße im Schnoor flog. Bald ist sie zuhause und sieht ihre Mutter! „ Wie schön ist es hier!“ dachte Susanne, - „unser altes Schnoor-Viertel sieht aus wie ein kleiner Märchen-Ort! All diese schmalen alten Häuser, die Rosen, die die Hauswände schmücken und der leckere Duft, der aus den Kaffees und Restaurants kommt... Wie schön, dass ich endlich wieder nach Hause fliegen kann! Hoffentlich ist das Fenster auch noch offen!“
Aber alle Fenster ihres Hauses waren leider geschlossen. Susanne war sehr müde und verzweifelt. Sie versteckte sich deshalb zunächstl in den Blumen vor einem Fenster. Bald wurde es dunkel und es herrschte ein angenehmer und warmer Abend – fast wie im Sommer. Am Himmel erschienen viele strahlende Sterne und auch der große Mond leuchtete hell. Endlich wurden in Susannes Wohnung die Lichter eingeschaltet und Susanne sah ihre Liebste Mutter durch das Fenster. Sie war sehr traurig, lief auf und ab durch das Zimmer, streichelte Susannes Sachen und setzte sich anschließend in einen Sessel. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte die ganze Quälerei, die ihre Seele empfand wider. Sie nahm die schwarze Feder, die sie auf Susannes Bett gefunden hatte, in ihre Hand und die Tränen flossen aus ihren Augen. Aber als die ersten Tränen auf die große schwarze Feder tropften, geschah plötzlich ein Wunder. Die Feder strahlte farbige Lichter aus und begann zu schweben. Die Mutter schrie auf vor Angst und sprang aus dem Sessel. Aber die Feder flog langsam immer weiter in Richtung Fenster, als ob ihr jemand befohlen hätte, das Fenster zu öffnen. Die Mutter öffnete also das Fenster und beobachtete verwundert ihren weiteren Flug. Schon bald entschied sie schnell nach unten zu laufen und diesem magischen Federflug zu folgen. Vielleicht bringt die Feder sie ja zu Susanne oder hilft ihr zumindest zu verstehen, was mit ihrer Tochter geschehen war!?

Strahlend und leicht schwankend flog die Feder in Richtung der Parkanlage am Wall. Das war die Lieblingsgegend von Susannes Mutter, um Spaziergänge zu machen. Hier hatte sie aber auch vor dreizehn Jahren die große schwarze Krähe mit einem Stock verletzt, um ihre kleine Susanne zu beschützen. Die Mama folgte der Feder gehorsam und versuchte sie nicht aus den Augen zu verlieren. Schmetterling – Susanne war natürlich auch da: sie folgte ebenfalls ihrer Mutter und versuchte lieber unbemerkt zu bleiben, denn die Feder war viel größer als sie und deshalb machte sie ihr große Angst.

Plötzlich endete der Flug der Feder vor einer Bank. Auf dieser Bank saß eine Dame in einem langen schwarzen Kleid. Sie hielt ihren Rücken ganz gerade und ihr Gesicht war strahlend hell. Es sah ganz so aus, als würde sie dort gerade auf jemanden warten. Ihr Gesichtsausdruck war ziemlich streng und wirkte sehr unsympathisch. Sie nahm die Feder aus der Luft in ihre Hand und steckte sie in ihre glänzenden schwarzen Haare – wie eine bunt - schimmernde Krone.

Susannes Mutter, die mit einer großen Angst und gleichzeitigen Hoffnung diese Szene verfolgte, näherte sich langsam der geheimnisvollen Frau. Sie wusste nicht so recht, was sie tun oder denken sollte. Die Dame forderte sie dazu auf, sich neben ihr auf die Bank zu setzen. Anschließend begann sie zu sprechen: „ Ich weiß, dass deine liebste Tochter verschwunden ist und deine Traurigkeit dich fast umbringt. Du weinst ununterbrochen und hast die letzte Hoffnung schon fast verloren. Du weißt einfach nicht, was du noch tun sollst, um deine Tochter zu finden, denn du hast ja schon alles versucht, umsonst. Ich weiß auch, dass du niemanden hast, der dir in deinem großen Unglück noch helfen kann. Aber ich - ich bin die einzige Person, die in der Lage ist, deine Tochter zu dir zurück zu bringen!“ „Wer sind sie? – fragte Susannes Mutter ganz verwirrt – „Wenn sie meine Tochter kennen und etwas tun können, dann machen sie es bitte und helfen sie mir!“ Ihr Herz pochte fürchterlich schnell und ihre Seele füllte sich mit Hoffnung. „Gut, ich tue das für dich. Ich kann dir helfen, weil ich Susannes Verschwinden verursacht habe! Und das war meine Rache!“ – sagte die alte Dame und sah Susannes Mutter ausdrucksvoll direkt in die Augen. Sie war eine sehr böse Frau und ihre schwarzen Augen strahlten einen heftigen Zorn aus. „Welche Rache? Wofür denn?“ – fragte die Mutter. „Wahrscheinlich hast du schon vergessen, wie du an einem wunderschönen sonnigen Tag, genau hier an dieser Stelle, eine große schwarze Krähe mit einem Stock getroffen hast. Es ist schon lange her und du brauchtest dieses Ereignis nicht in Erinnerung zu halten. Aber ich schon, denn diese Krähe war ich und du hast meinen Flügel gebrochen. Das war einfach grausam von dir! Seit diesem verfluchten Tag konnte ich nicht mehr fliegen. Bis heute nicht!“ Die Dame stand auf und zeigte Susannes Mutter ihren rechten Arm, der geknickt an einem langen schwarzen Band eingehängt war.
 
„Ja, du denkst natürlich richtig! Ich bin eine böse Fee oder Hexe - wie es dir besser passt. Nach unseren Regeln hätte deine Tochter für deine Tat bezahlen müssen. Sie hätte sich nach dreizehn Jahren eigentlich in eine Krähe verwandeln sollen, um mir zu dienen. So sind die Regeln! Aber deine Tochter war zu gutherzig. Sie hatte so ein warmes Herz und solch eine reine Seele, dass sie einfach nichts Böses tun oder denken konnte. Das war die Ursache, warum der böse Fluch bei deiner Tochter nicht ganz gewirkt hat. Sie verwandelte sich trotzdem an diesem Tag, jedoch nicht in eine schwarze Krähe, sondern stattdessen in einen niedlichen fliederfarbenen Schmetterling!“

Nach diesen letzten Worten erinnerte sich Susannes Mutter plötzlich an den kleinen Schmetterling, den sie immer in Susannes Zimmer gesehen hatte. „Tja, aber dieser kleine Schmetterling ist ein absolut nutzloses Ding, das ich nicht für meine Ziele benutzen kann.“

„Dann verwandle Susanne doch bitte zurück! Es war nicht ihre Schuld, denn schließlich habe ich, nicht sie, deinen Flügel gebrochen! Es tut mir so unendlich leid, aber meine Tochter hat damit doch wirklich nichts zu tun!“ – flehte die Mutter die Hexe an. „ Ich habe das getan und ich bin dafür verantwortlich, also bestrafe mich, wenn du willst!“ – sagte die Mutter entschlossen.
„Hast du etwa nicht bemerkt, dass ich dich gerade bestrafe? Was könnte für eine liebende Mutter denn noch schlimmer sein, als das Unglück seines eigenen Kindes?  - die Dame lächelte und böse Gedanken funkelten in ihren schwarzen Augen.
„Aber das ist so ungerecht! Bitte verwandle mich in eine Krähe und ich werde dir dienen! Ich tue alles, was du willst nur lass meine Tochter bitte wieder ein Mensch sein, ich flehe dich an!!!“

„Bist du bereit, dich selbst zu opfern? Sicher?“ – wunderte sich die Hexe.

„Aber ja, natürlich und ich weiß genau, dass meine Seele beruhigt und glücklich sein wird, wenn ich sehe, dass es meiner Tochter gut geht.“ – versicherte die Mutter von Susanne.

„Oh, wie großzügig du doch bist!“ – sagte die Hexe höhnisch. „Na gut! Dann bin ich einverstanden! Aber ich mache das nicht aus Gutherzigkeit, denn wie du schon weißt, bin ich eine böse Fee. Meine Gedanken sind dabei rein praktischer Natur. Ich brauche wirklich eine Dienerin, eine Krähe, die alles für mich macht und überall dort hinfliegt, wo ich sie hinschicke. Ich hoffe, du hast genug Sünden begangen und hast nicht so eine reine Seele wie deine Tochter. Dann gelingt es mir, dich in eine Krähe zu verwandeln! Jetzt gehe nach Hause und schlafe. Aber vergesse bitte nicht, bevor du ins Bett gehst, deine Fenster zu öffnen, denn morgen früh wirst du schon eine Krähe sein und zu mir fliegen müssen! Jetzt verrate ich dir noch ein Geheimnis: schau doch mal wie schön dieser fliederfarbene Schmetterling mit seinen leichten Flügelchen flattert. Das Licht des Mondes ist so hell, dass du es ohne Probleme erkennen kannst! Das ist deine Tochter Susanne. Nimm sie in die Hand und bring sie nach Hause. Setze sie auf ein Kissen, denn morgen früh wird sie wieder als dein kleines Mädchen aufwachen!“

Nach diesen letzten Worten ist die Dame verschwunden, als ob sie sich in dem nächtlichen Himmel aufgelöst hätte. Nur die große schwarze Feder, die in ihren Haaren steckte, schwebte noch eine lange Zeit weiter in der Luft und schimmerte in prächtigen Farben...

Erst jetzt bemerkte die Mutter den kleinen fliederfarbenen Schmetterling und sofort erkannte sie, dass es derselbe Schmetterling war, der in Susannes Zimmer erschien, nach dem sie verschwand. Die Augen der Mutter füllten sich sofort mit Tränen. Sie streckte ihre Hand aus und der Schmetterling – Susanne landete sofort darauf.  „Hallo Kleine! Endlich habe ich dich gefunden und wir sind wieder vereint, aber….“ – sie unterbrach den Satz und lief zunächst schnell nach Hause. Unterwegs lief die Mama sehr vorsichtig und sah mit großer Zärtlichkeit und Liebe ihre kleine Susanne an.

Endlich waren die beiden in ihrem gemütlichen und ruhigen Zuhause angekommen. Susanne Mutter war beruhigt, denn sie wusste, dass ihre Ungewissheit und alles Schlimme nun fast vorbei waren. Sie stellte sich vor einen großen Spiegel und schaute zufrieden auf die Spiegelung von ihr und dem Schmetterling – Susanne, der auf ihre Schulter übergeflogen ist. Susanne schaute sich auch das Spiegelbild von ihrer Mama an und ihre empfindliche Seele empfand Traurigkeit. Sie hatte alles gehört und gesehen und es war unerträglich für sie zu wissen, dass ihre Mutter sich morgen früh in eine hässliche Krähe verwandeln würde. Susanne wollte so ein Opfer nicht! Auch Susannes Mama war sehr traurig darüber, dass sie zum letzten Mal ihr richtiges Spiegelbild anschaut, doch sie wollte darüber nicht weiter nachdenken. Sie hatte alles bereits entschieden! Susanne sollte gerettet werden! Sie streckte erneut ihre Hand aus und Susanne setzte sich wieder darauf. Dann gingen sie in Susannes Zimmer und die Mama setzte ihre Tochter auf ein Kuschel-Kissen. Sie küsste die Luft über ihren zierlichen Flügelchen und sagte mit einer sanften Stimme: „Ich liebe dich, meine Kleine und ich befreie dich vor allem Bösen, egal welchen Preis ich dafür zahlen muss!“ Sie schaltete das Licht aus und ging aus dem Zimmer. Eine lange Zeit konnte sie nicht einschlafen aber langsam wurde sie dann müde und erschöpft von allem, was sie erlebt hatte und fiel in einen tiefen Traum…

Die erste Morgenstunde brachte keine Freude – der Himmel war grau und voller Regenwolken. Es wirkte so, als ob die ganze Natur schweigend auf einen großen Wolkenbruch mit Blitzen und Donner warten würde. Susannes Mutter war schon wach aber sie hatte Angst sich zu bewegen oder ihre Augen zu öffnen. Das erste, was sie hörte war ein unangenehmer Lärm von vielen Krähen, die sich vor dem Fenster tummelten. „Ich bin eine von ihnen“ – dachte Susannes Mutter „Ich bin eine schwarze Krähe mit großen Flügeln und wenn ich etwas sagen würde, dann wäre es nichts anderes als der Lärm, den ich jetzt höre!“ Unerträglich schmerzhaft und traurig klopfte das Herz von Susannes Mama. Und im selben Augenblick kamen ihr ganz andere Gedanken in den Sinn: „Aber wenn ich schon eine Krähe bin, dann ist meine liebste Tochter Susanne bestimmt nicht mehr ein Schmetterling, sondern wieder ein hübsches und fröhliches Mädchen! Sie ist zuhause! Sie schläft wahrscheinlich noch und hat gerade süße Träume!“

Die Mutter hatte immer noch zu viel Angst, um ihre Augen zu öffnen aber in diesem Moment trat jemand an ihr Bett und setzte sich daneben. „Mutti, wach auf! Es ist schon so spät! Ich habe schlecht geträumt: es war so ein komischer Traum, dass ich dir unbedingt davon erzählen will!“ Die Mutter öffnete ihre Augen und sah Susanne vor sich sitzen. „Stell dir vor, ich war ein kleiner fliederfarbener Schmetterling und flog hin und her und du… Du solltest heute in den frühen Morgenstunden in eine Krähe verwandelt werden. Das alles hatte eine sehr böse Hexe angerichtet…“

Susannes Mutter schaute sich Susanne an und anschließend ihre eigenen Hände und verstand, dass sie keine Krähe war, sondern eine Frau. Energisch und erleichtert umarmte und küsste sie Susanne und sagte ihr viele warmherzigen Worte, die sie immer wiederholte. „Mama, ich war so verängstigt durch diesen Traum, dass ich dich unbedingt sehen wollte!“ „Alles ist in Ordnung!“ – sagte die Mutter beruhigend „Aber weißt du was? Wir hatten heute Nacht wohl denselben Traum!“ Ist das denn möglich?“ – fragte Susanne. Aber an Stelle einer Antwort hörten beide plötzlich nur den komischen Krähenlärm hinter dem Fenster…  

Share by: